4 Konzeptionsebenen für Kunstunterricht : für und mit Schüler*innen

Foto-Projekt, Kunstunterricht, inszenierte Fotografie, temporäre Skulptur-Szenen-Bilder, the Gang, vier Schüler*innen im Flur vor dem Kunstraum, zwei mit Schal vor den Augen bzw. über dem Gesicht, zwei mit verkehrt herum angezogenen Kapuzenpullover in hellgrau und braun, Kapuzen vor dem Gesicht, zwei strecken Besen der Kamera entgegen, die Person mit dem Streifenpulli wischt mit dem Pinsel den Boden, an der Rückwand ein Fluchtweg-Schild

„19. Die Konventionen von Kunst werden durch Kunst verändert.“

(Sol LeWitt)

Mit Sol LeWitt gesprochen basiert dieser Text auf folgender These: Die Konventionen von Kunstunterricht können sich durch Kunstunterricht verändern.

Im Rahmen meiner Dissertation „Rekonstruktion von Kunstunterricht. Sinnüberschüsse  und künstlerische Handlungsformen im Kontext von Schule, aktueller Kunst und Theater“⇒ Online-Publikation, Essen 2017 habe ich fotografisches Material aus aus zwei Jahren Kunstunterricht mittels der Methode der Mehrebenen-Parallelproduktion (Sutter 2017,   S.186-222) analysiert. Es handelt sich um von mir als Forscherin konzipierten Kunstunterricht. Ich war zugleich die unterrichtende Lehrerin. 

Leitendes Interesse der Analyse war die Frage nach Sinnüberschüssen und der Entwicklung von künstlerischen Handlungsformen im Kunstunterricht durch Schüler*innen. Welche Formen der Bedeutungskonstruktion erfinden und praktizieren diese? Welche künstlerischen Handlungsformen entwickeln sich im Kunstunterricht? habe ich mich gefragt.

4 Konzeptionsebenen für Kunstunterricht wurden durch Einzelfallanalysen aus dem fotografischen Material herausgearbeitet. Jede Ebene ist mit spezifischen Konzeptionsprinzipien verknüpft. Diese können als Basis für weitere Unterrichtsentwicklungen dienen.

Konzeptionsebene 1 für Kunstunterricht:
„Der Aufforderungscharakter der Dinge“

Prinzipien: „Dinge als Materialdarsteller“, „Dinge als Strukturenzyme“, „Starterkit: bei den Dingen beginnen“

Die Konzeptionsebene „der Aufforderungscharakter der Dinge“ mit den Prinzipien „Dinge als Materialdarsteller“, „Dinge als Strukturenzyme“ und dem „Starterkit: bei den Dingen beginnen“ führt die beiden Parameter Material und Sinnproduktion zusammen. Dinge werden in diesem Zusammenhang als Material-Sinn-Kombinationen verortet. Sie haben bereits einen Produktionsprozess durchlaufen und bilden dadurch als geschlossenen Sinneinheiten zunächst einen Widerstand für die künstlerische Produktion von Schüler*innen. 

In einem Kunstunterricht, der in seiner Konzeption verstärkt auf Bedeutungsproduktion und die Erfindung künstlerischer Handlungsformen setzt, werden Materialentscheidungen in Zusammenhang mit den verhandelten Inhalten und häufig für jede Produktionsidee individuell getroffen. 

Schüler*innen bleibt zu entscheiden, ob sie sich dem in die Dinge eingeschriebenen Sinn entgegenstellen oder ihn in die eigne Ideenentwicklung integrieren. Es kann auch eine Erleichterung sein, eigene Sinnbildungen auf der Basis von schon vorhandenem Sinn zu vollziehen. Dinge können als Material-Sinn-Kombinationen die künstlerische Produktion bestimmen, aber auch auf die Struktur der Arbeitsprozesse einwirken.

Konzeptionsebene 2 für Kunstunterricht :
„Arbeit mit Motiven“

Prinzipien: „Produktionsmotiv“, „Aktionsmotiv“, „Bildmotiv“ 

Die Konzeptionsebene „Arbeit mit Motiven“ verknüpft durch ihre Prinzipien „Produktionsmotiv“, „Aktionsmotiv“, „Bildmotiv“ die Bildproduktion der einzelnen Schüler*innen mit der Dramaturgie von Kunstunterricht. Durch die Arbeit mit Aktions- und Produktionsmotiven verändert sich die Außenansicht von Kunstunterricht, wenn wie im Fallbeispiel „Mustersafari“ das Beobachten und Zeichnen des Raumes konstitutiver Bestandteil der Unterrichtsaktion wird. Schüler*innen können Aktionsradius und Aktivitätsgrad selbst bestimmen. Die Dramaturgie und Inhalte von Kunstunterricht bedingen sich in diesem Fall wechselseitig. Durch die Erfindung eigener Handlungsformen, dazu gehören beispielsweise das auf dem Tisch liegen oder das Anreichen von Gegenständen,  generieren die Schüler*innen die spezifische Struktur von Unterricht.

Die Konzeptionsarbeit mit Bildmotiven ermöglicht den Einzelnen subjektive Lesarten zu einem von der Lehrperson gesetzten Fallkonstrukt auszuarbeiten. Das Bildmotiv „Im Süßigkeitenland“ ermöglicht Anschlüsse auf den Ebenen von Material, Technik, Inszenierung und Thema. Die Möglichkeit der Ausdeutung des Motivs aktiviert die Klasse als Produktionsgemeinschaft: Jedes Mitglied der Klasse entwickelt seine eigene Lesart. Die abschließende „Lösung“ zu „Im Süßigkeitenland“ wäre die Summe aller subjektiven Lesarten auf den unterschiedlichen Ebenen.[1]


[1] Man könnte auch eine Analogie zu einer Interpretationsgemeinschaft in der rekonstruktiven Sozialforschung sehen. Die Objektive Hermeneutik ist nach Andreas Wernet „ein Verfahren der Textinterpretation mit dem Anspruch, die Geltung der Interpretation an intersubjektive Überprüfbarkeit zu binden“ (Andreas Wernet: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik⇒ 2000, S.11).

Konzeptionsebene 3 für Kunstunterricht :  „Kontextverschiebungen“

Prinzipien: „Kommunikation betreffend“, „künstlerische Produktion betreffend“, „peer-to-peer“, „Schüler*innen- Lehrperson“ 

Die Konzeptionsebene „Kontextverschiebungen“ betrifft die Ebene der Kommunikation im Unterricht und die Ebene der künstlerischen Produktion im Unterricht. Sie findet sowohl peer-to-peer also auch zwischen der Lehrperson und den Schüler*innen statt. Die Lehrperson nimmt in ihrer Unterrichtspraxis Kontextverschiebungen vor. Im Fallbeispiel der „Einzelbesprechung“ rekurriert sie auf eine Praxis, die mit dem künstlerischen Studium verbunden ist und integriert diese in den Kunstunterricht:  Die Begleitung individueller Praxisprozesse durch Einzelgespräche zwischen Professur und Studierenden. Einzelgespräche kommen auch in medizinischen, juristische, therapeutischen und seelsorgerischen Konstellationen oder auch im Rahmen der universitären Lehre vor. Die Schüler*innen greifen die Kontextverschiebung auf und variieren sie in einem Zwischenschritt über den Modus Sprechens hin zum Modus der „Sprechstunde“ im Kunstunterricht .

Konzeptionsebene 4 für Kunstunterricht: „Spielball Institution“.

Prinzipien der Konzeption : „Adaption“ ,„Umwidmung“ und „Parallelproduktion“

Die Konzeptionsebene „Spielball Institution“ sieht die Regeln und Routinen der Institution Schule als Thema der künstlerischen Produktion im Unterricht vor. Die Konzeptionsprinzipien „Adaption“, „Umwidmung“ und „Parallelproduktion“ setzen dabei an unterschiedlichen Ebenen der institutionellen Rahmung an:

Das Prinzip „Adaption“ verknüpft Regeln und Routinen bzw. Parameter der Institution Schule mit der spezifischen Konstellation von Unterricht. 

Im Fallbeispiel „Tafel-Uhr“ wird das Parameter der Zeitmessung für den Kunstunterricht einer Klasse adaptiert. Die zeitliche Taktung von Unterricht und Schule wird für den Kunstunterricht spezifisch geregelt. Die „Tafel-Uhr“ funktioniert nicht akustisch. Sie zeigt optisch die Zeit bis zum Aufräumen an der Tafel im Kunstraum an.

Das Prinzip „Umwidmung“ erweitert das Arbeitsfeld künstlerischer Produktion über den Kunstunterricht hinaus. Die Praxis von Kunstunterricht kann auch den Schulraum verlassen und auf Regeln und Routinen, Praktiken und den öffentlichen Schulraum Bezug nehmen. Die beiden Fallbeispiele – der Vertretungsplan mit Grußbotschaft und das tag am Memoboard sind Entdeckungen der Forscherin/Lehrerin. Das Prinzip der „Parallelproduktion“ erweitert die Ebene der Unterrichtspraxis. Es ermöglicht Schülerinnen eigenständig und aus ihrer Alltagsästhetik heraus etwas entwickeln und das von der Lehrperson nicht in Konkurrenz zum offiziellen Unterrichtsgeschehen gewertet- und dementsprechend nicht sanktioniert wird. Idee ist vielmehr die Reichweite künstlerischer Produktion über den wöchentlichen Kunstunterricht hinaus zu erweitern und gleichzeitig wieder zurückzubinden. Eigensinnige und persönliche Lösungen der Schülerinnen aus ihrem Alltag (vgl. Fallbeispiel „Erdbeer-Nägel“LINK) und auch von Unterrichtsprojekten abgehende Seitenäste (vgl. Fallbeispiel „Fanarme“LINK) werden durch die Aufmerksamkeit der Lehrerin und ihre fotografische Produktion im Feld (siehe Kapitel 2) als Möglichkeiten künstlerischer Produktion kontextualisiert. 

Alle vier Konzeptionsebenen sind auf eine Pluralität der Lösungen hin angelegt. Das heißt es geht darum, die Unterschiedlichkeit in den Produktionswegen und -entscheidungen der Schüler*innen bereits in der Konzeption einzuplanen.

Konzeptionsentscheidungen für Kunstunterricht werden von dem*der Lehrer*in wie von Schüler*innen getroffen. Sie sind zunächst Teil der individuellen Arbeitspraxen, können aber auch die gemeinsam geteilte Struktur des Unterrichts betreffen. Schüler*innen in diesem Sinne an der Konzeption von Kunstunterricht zu beteiligen bedeutet sie zu Ko-Autor*innen der kollektiven Sinnproduktion zu machen. 

Zwischen Absicht und Hinsicht

Eine Konzeption integriert die Möglichkeit der Planänderung und macht sie produktiv. Sie kommuniziert eine perspektivgebundene Absicht und berücksichtigt gleichzeitig die sich erst situativ einlösende Hinsicht. Am Theater wären das die Zusammensetzung des Ensembles, die Produktionsbedingungen in den Werkstätten oder die Bühnensituation. Das verbindet Arbeiten konzeptueller Kunst und die Praktik des Konzeptionsgespräches am Theater mit dem Vorschlag einer neuen Planungsperspektive für Lehrer*innen und ihren Kunstunterricht.

Vier Konzeptionsebenen für Kunstunterricht berücksichtigen dieses Spannungsfeld zwischen Absicht und Hinsicht. Sie gehen von der perspektivgebundenen Absicht der Lehrperson – Planung von Kunstunterricht – aus und berücksichtigen gleichzeitig die situativ gebundene Hinsicht. Die Realisation dieses Kunstunterrichts kann nur situativ und mit allen zusammen erfolgen. Entscheidend ist in allen Ebenen die aktive Teilhabe aller Akteur*innen und am institutionellen Setting Schule die besondere Rolle der Schüler*innen und der Lehrperson im Modus der Koproduktion

Die Klasse versteht sich dementsprechend stärker als Produktionsgemeinschaft, die Möglichkeiten von Form, Strukturiertheit und Thema gemeinsam auslotet. Zu den Möglichkeiten der Produktion gehört also auch die Produktion von Kunstunterricht selbst mit seinen Parametern Arbeitsplatz und Arbeitsorganisation, Autor*innenschaft und Materialressourcen, sowie der Generierung von Themen.

EXKURS: CONCEPTUAL ART

Um das Prinzip Konzeptionsebene zu erläutern, starte ich mit einem kleinen Exkurs: Dieser beginnt bei der Conceptual Art als dem Punkt, an dem sich das Prinzip des Konzeptes in der Kunst theoretisiert. Die Realisation der künstlerischen Arbeit kann, muss aber nicht, durch die Künstler*innen erfolgen. Die künstlerische Form, die eine Arbeit letztendlich annimmt, ist nicht festgelegt. Sol LeWitt benutzt in diesem Zusammenhang in seinem Text den Begriff „Grammatik“. In insgesamt 35 Sentences of Conceptual Art hat der Künstler zentrale Aspekte dieser künstlerischen Arbeitsweise dargelegt. Die „sentences“ erschienen zum ersten Mal in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Art Language: The Journal of Conceptual Art“ im Mai 1969 . Vier Sätze haben im Kontext der hier vorgeschlagenen konzeptuellen Arbeit von und mit Schüler*innen im Kunstunterricht besondere Relevanz:

5. Irrationale Gedanken sollten streng und logisch verfolgt werden.

9. Konzeption und Idee sind verschieden. Konzeption beinhaltet die allgemeine Richtung, während Ideen Bestandteile davon sind. In den Ideen verwirklicht sich die Konzeption.

10. Ideen alleine können Kunstwerke sein. Sie sind Teil einer Entwicklung, die irgendwann einmal ihre Form finden mag […].

19. Die Konventionen von Kunst werden durch Kunstwerke verändert.

(Sol LeWitt, „Sätze über konzeptuelle Kunst“)

Konkretisierung und Zuschnitt 

Die Konzeptionsebenen für Kunstunterricht sind an den Rändern offen. Sie sind nicht 1:1 übertragbar. Das unterscheidet sie von Unterrichtsmaterialien, die bereits auf die Zielgruppe und ein bestimmtes Thema im Lehrplan zugeschnitten sind und häufig die Art und Weise der Umsetzung durch eine bestimmte Technik vorgeben. Für die Konzeptionsebenen bedarf es noch eben dieses Zuschnitts, im Sinne einer Konkretisierung. Erst dadurch werden die konzeptuelle Ausrichtung und die Beteiligung der Schüler*innen möglich. 

So wie mit jedem Forschungsbeitrag neue Varianten einer Forschungsmethode entstehen, so erfahren die Konzeptionsebenen für Kunstunterricht in jeder konkreten Ausformung mit den Protagonist*innen, mit dem Standort und dem Thema Konkretion und Erweiterung. 

Eine These meiner Dissertation ist: Kunstunterricht, der sich in der Konzeption seiner Strukturiertheit an künstlerischen Produktionsprozessen außerhalb des institutionellen 
Settings Schule orientiert, verändert die Perspektive auf die Akteur*innen. Er fordert 
Schüler*innen zur Koproduktion heraus und ermöglicht ihnen, die Struktur von Kunstunterricht konzeptionell mitzubestimmen und zu generieren. Schule und Unterricht sind in der vorliegenden Konzeption von Kunstunterricht auch Bedingung und Thema künstlerischen Handelns. Mit der Thematisierung von Regeln, Routinen und Ritualen des institutionellen Settings eröffnet sich ein neues konzeptionelles Themenfeld für Kunstunterricht. 

Die vorgeschlagenen Konzeptionsebenen 1) Arbeit mit dem Aufforderungscharakter der Dinge 2) Arbeit mit Motiven 3) Kontextverschiebungen 4) Spielball Institution stehen für ein konzeptuelles Verständnis künstlerischer Produktion im Kunstunterricht. Schulische Dinge wie Tafeln, Mülleiner, Besen oder Verdunkelungsvorhänge aber auch persönliche Dinge der Schüler*innen wie Haustürschlüssel, Mäppchen, Mineralwasserflasche oder Portemonnaie können wie in vorgeschlagen als Materialdarsteller im Rahmen künstlerischer Produktion zum Einsatz kommen. Die Arbeit mit Praktiken des institutionellen Settings Schule wie der Begrüßung oder dem Tafelanschrieb kann zu künstlerischen Handlungsformen führen. Schule ist dann nicht nur Bedingung sondern Thema künstlerischen Handelns.