ERWEITERUNG KE1: zu Tisch

5 Beispiele aus dem Kunstunterricht

+1: „Freitischler*innen“ und „Materialhöhlen“
+2: „Bühnen-Tisch“ zwischen Sockel, Bauelement und Präsentationsplattform
+3: „Boden-Tisch“ – die Materialdimension, für die es den Tisch nicht gibt
+4: „Tauschgeschäfte“ – der Tisch als Umschlagplatz
+5: „Konferenz-Tisch“ 

Für die Entwicklung der Konzeptionsebene 1 „Der Aufforderungscharakter der Dinge“ habe ich fünf weitere Produktionen im Kontext meines Kunstunterrichts analysiert.

Die 5 Beispiele schließen als Kurzanalysen an die Konzeptebene 1 an und vertiefen und erweitern das zentrale Fallbeispiel. Außerdem können sie Anregungen für die Arbeit mit Schüler*innen im Kunstunterricht sein und direkt in die Praxis übersetzt werden.

+1: „Freitischler*innen“ und „Materialhöhlen“ – eine besondere Umgangsweise mit dem Arbeitsplatz

In beiden Fällen, sowohl für die Arbeitspraxis Freitischler*in als auch die Praktik der Materialhöhlen entsteht eine besondere Umgangsweise mit dem Arbeitsplatz in Form einer eigenen Praktik.

„Freitischler*innen“

Der Begriff „Freitischler*in“ steht im vorliegenden Fall für eine Person und deren personalisierte Arbeitspraxis gleichermaßen.

Ein*e Schüler*in hat im Kunstunterricht, Materialien unter dem Tisch positioniert und erweitert den eigenen Arbeitsplatz dadurch um eine zusätzliche Ebene. Der Tisch wird als Arbeitsfläche freigehalten und als Unterstand bzw. Materiallager genutzt. Der*die  Schüler*in hat eine spezifische Arbeitsweise entwickelt, an einem Arbeitsplatz für den er*sie kein alleiniges Nutzungsrecht hat. Nach jeder Unterrichtsstunde muss der Arbeitsplatz wieder in den Ausgangszustand versetzt werden. Der*die „Freitischler*in“ arbeitet mit diesem Ausgangszustand und integriert die freie Fläche in den eigenen Arbeitsprozess.

Diese Arbeitsweise steht im Kontrast zu den Arbeitsweisen anderer Schüler*innen derselben Klasse im gleichen Projekt:

„Materialhöhlen

Der Begriff „Materialhöhlen“ fasst den Zustand  des Arbeitsplatzes der Schüler*innen wie die Art und Weise des Materialumgangs.

Die Schüler*innen sitzen inmitten ihres Materials. Alles, was sie zum Arbeiten von zu Hause mitgebracht haben, liegt griffbereit um sie* herum auf dem Tisch. Diese Arbeitsweise ist auch durch das Projektthema bedingt. Die Suche, Bereitstellung, Anordnung, Verknüpfung und Verwahrung von Materialien, Farben, Dingen spielt eine entscheidende Rolle. Der Produktionsimpuls „Eine Reise ins …“ arbeitet mit einer Deutungslücke, die von den Schüler*innen in unterschiedlicher Weise gefüllt werden kann: ins Grün, ins Märchenland, in die Zuckerwelt, ins Orange-Lila. Die Entscheidung für ein Reiseziel wirkt sich direkt auf die Farbgebung der Materialhöhle aus.

Die Frage, die sich den Schülerinnen zum Projektstart stellte ist, was kommt alles für „eine Reise ins …“ in Frage. Was kann alles Teil des imaginierten Sinnzusammenhangs und zunächst der thematischen Materialsammlung jeder einzelnen Schülerin werden. Materialien und Dinge liegen im Überfluss vor. Die Schülerinnen haben sich ihre Sinnangebote gewissermaßen selbst mitgebracht. Alles, was in den möglichen Einflussbereich des Themas gehören könnte, liegt bereit, für den Fall, dass eine Anbindung gefunden wird. Umgekehrt kann auch zu einem Ding eine mögliche Anbindung erfunden werden. Anders als bei der Freitischlerin wird die themenspezifische Materialhöhle zu Beginn der Stunde eingerichtet und bleibt dann bis zum Aufräumen gegen Ende der Stunde bestehen.

+2: „Bühnen-Tisch“ zwischen Sockel, Bauelement und Präsentations-Plattform.

Der „Bühnen-Tisch“ im Fallbeispiel trägt die Akteur*innen – Spielfiguren und Utensilien – und bleibt gleichzeitig auch Arbeitsplatte und Ablagefläche. Zum Beispiel für ein Handy, das dort abgelegt werden kann, bis es dann bei einem Videodreh zum Einsatz kommt.

Durch die Videoaufzeichnung erhält das Spiel eine neue Dimension. Durch filmische Mittel wie Kamerafokus, Zoom, Totale erhält das Spiel mit den Figuren eine eigene Form und wird festgehalten. Die Dramaturgie der Handlung entsteht bei allen drei Versionen, dem Puppenspiel, dem Playmobilspiel und auch bei seiner filmischen Umsetzung in den offenen Moment hinein. Das heißt die Geschichten entstehen ohne Storyboard oder Plot. Sie befinden sich im Modus einer sich stets fortsetzenden Erzählung. 

Der Sockel im Museum passt sich – anders als der Tisch im Kunstraum zum Beispiel – seiner Umgebung, dem White Cube, möglichst unauffällig an. Die Arbeit „Das Kinderzimmer“ des Künstlers Hans-Peter Feldmann thematisiert dieses Prinzip der Präsentation und dreht es zugleich um. Ein ganzes Konvolut von gelb lackierten Sockeln steht in einem mit grünem Teppich ausgeschlagenen Raum. Die Besucher*innen können einen Teil der Ausstellungsstücke – kleine Dingwelten bzw. Objektarrangements – über Fernsteuerung in Bewegung versetzen. Rote Startknöpfe auf dem Boden aktivieren zum Beispiel ein Windrad. Es gilt weiterhin die museale Regel „Bitte nicht berühren“. Anfassen oder in die Hand nehmen dürfen Besucher*innen die Objekte nicht.

Die Schüler*innen dahingegen steuern die Figuren und ihr Spiel komplett selbst. Sie* sind es, die Impulse geben. Sie* können es ständig erweitern bzw. beeinflussen, auch auf der Ebene der filmischen und der dramaturgischen Mittel.

+3: der „Boden-Tisch“ – die Materialdimension, für die es den Tisch nicht gibt

Für den Zuschnitt dieser Stoffbahnen gibt es keinen adäquaten Tisch. Die Dimensionen des Materials – es handelt sich um Stoffbahnen mit einer Kantenlänge von zwei Metern – sprengen die Arbeitsmöglichkeiten in der Schneiderei. Selbst der Zuschneidetisch ist hierfür nicht ausreichend. Obwohl dieser Tisch über eine größere Fläche und eine andere Höhe als Standard Tische verfügt. Schneider*innen arbeiten im Stehen daran. Der Tisch bietet Platz, um Stoffbahnen für Zuschnitte (3) abzulegen. Der Zuschnitt ist eine Art Bausatz für das zu fertigende Kleidungsstück. Plan und Material sind bereits eine Verbindung eingegangen. Im Falle des „Boden-Tischs“ wurde ein ganzer Flur als Arbeitsbereich genutzt. Das verändert auch den Gesamtraum.

Mit dieser Verschiebung der Dimensionen arbeiten auch die Künstler Rainer Ruthenbeck und Franz Erhard Walther.

Erfahrung mit textilen Materialien steht im Zentrum der Arbeit von Franz Erhard Walther. Mittels sogenannter Werksätze verändert sich die Beziehung der Betrachter*innen zum Kunstwerk. Sie werden in ein anderes Verhältnis gesetzt. Das Verhältnis von künstlerischer Arbeit und Betrachter*innen bleibt im Konzept des Werksatzes variabel und ist gleichzeitig integrativer Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Sie bestimmen und erzeugen ihre Präsentations- und Aktionsfläche mit.

Die Arbeit von Rainer Ruthenbeck verschiebt die Dimension des Zuschnittes durch die Änderung seiner Bezugsgröße. Während Zuschnitte für Kleidung oder Kostüme sich gewöhnlich an den Dimensionen der menschlichen Figur und den Proportionen der Träger*innen orientieren, ist in der Ausstellungssituation die Dimension des Raumes entscheidend. Zweiertische für Schüler*innen sind im Durchschnitt 130 cm lang und 55cm tief. Das Fallbeispiel „Boden-Tisch“ eröffnet im Kontext Schule die Frage zu den Bedingungen künstlerischer Produktion von Schülerinnen in der Schule und ihren Wechselwirkungen mit gestellten Aufgaben. Handhabung und Organisation von Material und Zugriff darauf, wären dann sowohl deren Vorstufe, als auch Teil.

+4: Tauschgeschäfte – der Tisch als Umschlagplatz

Der Tisch ist hier zunächst Auslagefläche. Kleinteile, Dinge und Materialien, werden abgelegt, angeordnet, präsentiert und in ihrer Vielfalt vorgeführt. Die Hände sind beschäftigt und zeigen Gesten des Greifens. Sie sind nicht einfach nur abgelegt. Die Besitzverhältnisse sind aus dem Foto nicht zu ersehen. Mindestens drei Personen stehen um einen Tisch und nicht etwa auf verschiedenen Seiten wie im. Schmuckfachgeschäft. Schmuckstücke werden dort in einer Auslage unter Glas präsentiert und gleichzeitig geschützt. Kund*innen und Personal stehen sich auf verschiedenen Seiten gegenüber. Bei Kaufinteresse werden Schmuckstücke der Auslage entnommen und zur Anprobe übergeben. Sie können dann aus der Nähe angeschaut und in die Hand genommen werden.

Beim Abendessen in einer Tapas Bar ist es üblich, dass jeder Gast mehrere Tapas-Portionen bestellt alles zusammen angetragen und dann geteilt wird. Alle dürfen sich überall bedienen. Es ist aber umgekehrt nicht von allen Sorten für alle da. Das verbindet das Tauschgeschäft im Kunstunterricht mit einem Essen in einem spanischen Restaurant mit Tapas. Die Bestellung der Einzelnen erweitert den Pool und somit das Repertoire für die Gesamtgruppe. 

Dass man sich an den candy spills  des Künstlers Felix Gonzalez-Torres bedienen darf, würden die Besucher*innen, wenn sie diesen im Museum begegnen, nicht erwarten. Vor dem Hintergrund der im Museum üblichen Regeln, ist dies eine Besonderheit. Umgekehrt haftet einem aus einer künstlerischen Arbeit und dem Kontext Museum entnommenen Bonbon auch zu Hause noch ein Hauch Besonderheit an. Die Dinge auf dem fotografierten Tisch im Kunstunterricht sind zum Teil in kleine Behälter verpackt oder liegen offen. Menge und Zusammenstellung sind spezifisch, anders als in einem Bastelladen . Dort können sich Käufer*innen selbst bedienen. Sie finden die Kleinteile in den Regalen, aufgereiht und portioniert.

,Tauschen‘ bedeutete ursprünglich in betrügerischer Absicht aufschwatzen. Ein „Tausch-Geschäft“ dahingegen ist ein Win-Win-Situation. Die Schüler*innen nutzen Material, das sie bereits besitzen, als Gegenwert. Beide Seiten erhalten zusätzliches Material (Objekte, Dinge, Materialien), die ihr Repertoire erweitern. Voraussetzung ist, dass sie sich über die Bedingungen einig werden und der Tausch zustande kommt. Situativ und an den Rändern von Unterricht in einer kleinen Gruppe, die sich individuell dafür gefunden hat, können die Tauschgeschäfte am Tisch nach den grundlegenden Prinzipien ablaufen. Es bedarf dann keiner besonderen Dramaturgie. Die Auswahl und das Finden der für einen bestimmten Sinnzusammenhang in Frage kommenden Dinge wird Teil dieses Projektes. Tauschen, zusammengesetzt aus Verhandeln, Geben und Nehmen tritt hier als Teil künstlerischer Praktiken auf.

+5: Konferenz-Tisch

Der „Konferenz-Tisch“ bildet den Mittelpunkt des Raumes. Er initiiert eine Praxis. Die Praxis des Konferierens. Die Arbeit an den Projekten ist währenddessen erst einmal ausgesetzt.

,Konferenz‘ kommt vom französischen conférer und geht zurück auf das lateinische conferre, das zusammentragen, sich besprechen bedeutet. Eine Konferenz ist eine Besprechung mehrerer Personen über fachliche oder organisatorische Fragen. Der Tisch dient dann auch als Ablagefläche für Unterlagen, Schreibutensilien und im offiziellen Rahmen ggf. auch Getränke für die Anwesenden. Die Konferenz hat im Vergleich mit der Besprechung einen noch stärker öffentlichen Charakter. Sie wird vorab angekündigt und benötigt Vorlauf und Vorarbeit. Besprechungen finden auch spontan und ohne Vorbereitung statt. Während Besprechungen oder Gespräche auch von Angesicht zu Angesicht geführt werden, kommt zur Konferenz eine größere Gruppe von Personen zusammen. Es gibt in der Regel eine. Gesprächsleitung. Außerdem wird ein Protokoll angefertigt.

24 Personen, lassen sich auf dem Foto ausmachen. Die Forscherin und als Lehrerin in die Prozesse involvierte Fotografin, ich, verfüge über das Kontextwissen, dass es sich um Schüler*innen handelt. Alle sitzen zusammen an einem Tisch. Er wurde zusammengebaut aus mehreren Einzeltischen und orientiert sich an der Längsachse des Raumes. Einige Tische stehen noch an den Seiten. (Es bedeutet natürlich körperlichen Aufwand, die Raumordnung über den Tisch herzustellen.) Das Kopfende ist anders als bei der Besprechung im Büro oder der privaten Tafel doppelt besetzt. Dort sitzen auf dem Foto am unteren Kopfende zwei Schülerinnen. Die andere Seite ist verdeckt. Im beruflichen Kontext ist das Kopfende der Leitung vorbehalten. Diese Person, die meist die höchste Position im hierarchischen Gefüge einnimmt und ggf. auch die Verhandlungen führt. Im Rahmen der privaten Feier sitzt am Kopfende der oder die Gastgeberin oder der Platz bleibt frei . Während Schüler*innen in Schulräumen häufig in Bankreihen nebeneinander und dem Frontbereich zugewandt sitzen, bildet hier der Tisch das gemeinsame Zentrum. Er dient als Ablagefläche für Stifte und Notizbücher und zeigt einen anderen Modus des Arbeitens an: das sich besprechen in der Gesamtgruppe.

Anders als bei der Performance von Marina Abramovic „The artist is present“, 2010 im Museum für Modern Art in New York sitzen sich hier nicht zwei Einzelne schweigend gegenüber, sondern die gesamte Produktionsgemeinschaft Kunstunterricht um aktuelle Fragen zu besprechen. 

Konzeptionsebene für Kunstunterricht 1: Der Aufforderungscharakter der Dinge